Stahl, Günter: Geschäftlich in den USA: ein interkulturelles Trainingshandbuch. 1999, S. 225ff.
Günter Stahl; Claudia Langeloh; Torsten Kühlmann. - Wien: Wirtschaftsverlag Ueberreuter, 1999,  ISBN 3-7064-0529-6

Anhang: So entstand das Orientierungsprogramm

1. Gestaltung der Fallbeispiele

Das gesamte Trainingsmaterial beruht auf Erhebungen bei 142 deutschen Fach- und Führungskräften, die mehrheitlich von deutschen Unternehmen in die USA entsandt worden waren oder aber für amerikanische Organisationen arbeiteten. In Form eines ein- bis zweistündigen Interviews baten wir die Untersuchungsteilnehmer, uns kritische Vorfälle (sogenannte Critical incidents) aus ihrem beruflichen oder privaten Leben in den USA zu schildern. Ein kritischer Vorfall musste, um berücksichtigt zu werden, vier Anforderungen genügen.

• Er musste eine alltägliche Begebenheit zum Inhalt haben, bei der ein deutscher Entsandter mit mindestens einem Amerikaner zusammentrifft.
• Der deutsche Beteiligte musste den Vorfall selbst erlebt haben.
• Der Vorfall musste vom deutschen Entsandten als eigenartig, verwirrend oder konflikthaltig empfunden worden sein.
• Amerikaner, die mit dem Vorfall konfrontiert wurden, mussten sich über die Erklärung der Handlungen ihrer Landsleute in dem Fallbeispiel mehrheitlich einig sein.

In den Interviews wurde detailliert rekonstruiert, was genau bei dem kritischen Vorfall passierte, was dem Vorfall vorausgegangen war und welche Folgen der Vorfall für die Beteiligten hatte. Alle Gespräche wurden mit Erlaubnis der Interviewten auf Tonbandkassette aufgezeichnet. Die Interviews erbrachten insgesamt ca. 400 kritische Vorfälle.
Nach einer Sichtung des Interviewmaterials wurde die Zahl der kritischen Vorfälle nach folgenden Gesichtspunkten reduziert:
• Vorfälle, die der Interviewte als sehr außergewöhnlich bezeichnete, wurden nicht weiter berücksichtigt - der Vorfall sollte ja eine alltägliche Begebenheit zum Inhalt haben.
• Ausgesondert wurden auch Vorfälle, die sich aus rein fremdsprachlichen Missverständnissen ergeben hatten, nicht aber Fälle, die allgemeine Kommunikationsprobleme beinhalteten.
• Aus den Vorfällen, die sich in Inhalt und Ablauf stark ähnelten, wurde die Problemepisode ausgewählt, zu der die detailliertesten Informationen vorlagen.

Nach diesem Auswahlprozess verblieben noch etwas mehr als 100 Fallbeispiele, die in der Textfassung um unwichtige Passagen, Wiederholungen und Gedankensprünge bereinigt wurden. Zudem wurden die Namen von Personen und Unternehmen durch fiktive Namen ersetzt, um die Anonymität der Untersuchungsteilnehmer zu wahren.
Um sicherzustellen, dass diese Vorfälle in deutsch-amerikanischen Begegnungen häufiger vorkommen, erhielten 40 weitere deutsche Führungskräfte in den USA einen Fragebogen, der sie aufforderte, die ermittelten Fallbeispiele danach zu beurteilen, wie oft sie ähnliche Vorfälle schon selbst erlebt oder im unmittelbaren Arbeitsumfeld beobachtet haben. Nach Wegfall der Vorfälle, die in der Befragung als nie oder selten erlebt bezeichnet wurden, verblieben noch 60 Fallbeispiele.
 

2. Analyse der Fallbeispiele aus deutscher und amerikanischer Sicht

In zwei Gruppendiskussionen mit Amerikanern wurde(n) für jeden der 60 Vorfälle eine oder mehrere Erklärung(en) des amerikanischen Verhaltens herausgearbeitet. Eine weitere Verwendung fanden nur Ursachenzuschreibungen, auf die sich die Gruppe einvernehmlich einigen konnte. Diese Erklärung repräsentiert bei jedem Fallbeispiel die amerikanische Sichtweise.
Um Interpretationen der kritischen Vorfälle aus deutscher Sicht zu ermitteln analysierten deutsche Entsandte, die sich erst seit kurzem in den USA befanden, dieselben kritischen Vorfälle nach möglichen Ursachen. Die gefundenen Erklärungen spiegelten oftmals Vorurteile und Wissensdefizite über das Leben und Arbeiten in den USA wider. Die am häufigsten genannten Ursachenzuschreibungen, die nicht mit denen der Amerikaner übereinstimmten, wurden zur Formulierung der übrigen Antwortalternativen herangezogen.
Am Ende dieses Entwicklungsschrittes resultierten vier Erklärungen für das Verhalten der/des amerikanischen Partner(s) bei jedem kritischen Vorfall, wovon drei die — vermutlich unzutreffende — deutsche Sichtweise und eine die — vermutlich zutreffende — amerikanische Perspektive wiedergaben.
 

3. Überprüfung des Kultureinflusses in den Fallbeispielen

Haben die an den kritischen Vorfällen beteiligten Personen aufgrund ihrer kulturellen Prägung oder aufgrund individueller Eigenheiten gehandelt? Dieser Frage widmet sich der dritte Entwicklungsschritt. Sind kulturelle Einflüsse im Spiel, ist zu erwarten, dass Amerikaner das Verhalten ihrer Landsleute in den Fallbeispielen eher auf die kulturellen Besonderheiten zurückführen, die in den Gruppendiskussionen herausgearbeitet wurden, als Deutsche mit geringen Kenntnissen der amerikanischen Kultur. Um diese Annahme zu prüfen, haben wir die 60 kritischen Vorfälle mit den jeweils vier Antwortmöglichkeiten 36 Amerikanern und 42 Deutschen vorgelegt. Damit verbanden wir die Bitte, die jeweils plausibelste Antwortalternative auszusuchen.
Die Ergebnisse belegen, dass die befragten Amerikaner bei den meisten Vorfällen die kulturadäquate Antwort deutlich häufiger
wählten als die deutschen Beurteiler. Einige wege Fallbeispiele, bei denen nicht der erwartete Unterschied auftrat wurden entweder eliminiert oder die Beschreibung des kritischen Vorfalls wurde noch stärker auf die kulturelle Interpretation des amerikanischen Verhaltens ausgerichtet. Am Ende verblieben 44 Fallbeispiele mit jeweils vier Antwortalternativen, die von Deutschen und Amerikanern als unterschiedlich zutreffend eingestuft wurden.
 

4. Zusammenfassung der Fallbeispiele zu Kulturdimensionen

Um die Fallbeispiele nach Kulturdimension, bei denen sich Amerikaner und Deutsche unterscheiden, zu ordnen, war eine Gruppierung der Vorfälle nach inhaltlichen Kriterien erforderlich. Auf der Grundlage einer umfangreichen Literaturanalyse wurden sieben Trainingsabschnitte mit kritischen Vorfällen gebildet, deren Problemgehalt sich aus deutsch-amerikanischen Unterschieden auf den folgenden Kulturdimensionen ergab:

• Individualismus
• Egalitarismus
• Handlungs-/Ergebnisorientierung
• Wettbewerbsdenken
• Streben nach sozialer Anerkennung
• Kontaktorientierung
• Nationalbewußtsein

Im nächsten Schritt erhielten fünf Beurteiler die Aufgabe, die 44 Fallbeispiele unabhängig voneinander den ermittelten Kulturdimensionen zuzuordnen. Im Durchschnitt ergab sich eine 90%ige Übereinstimmung bei der Zuordnung.
 

5. Erläuterungen zu den Kulturdimensionen

Jeder Trainingsabschnitt endet mit einer Erläuterung der betreffenden Kulturdimension. Um die Leser mit Hintergrundinformationen über das Einsatzland USA auszustatten, haben wir aus verschiedenen Literaturquellen Angaben zu den im Trainingshandbuch behandelten Kulturmerkmalen, ihren Auswirkungen im amerikanischen Lebens- und Arbeitsalltag sowie ihren geschichtlichen Hintergrund entnommen und zusammengefaßt. Die verwendeten Literaturquellen beinhalten überwiegend wissenschaftliche Fachbücher, aber auch landeskundliche Werke und populärwissenschaftliche Ratgeber (siehe Literatur, Seite 230).
Das am Ende jedes Trainingsabschnittes vermittelte Wissen über die kulturellen Besonderheiten der USA bildet einen vorläufigen Orientierungsrahmen. Es handelt sich um die Überzeugungen, Werte und Normen, die ein Großteil der Amerikaner, mit denen Sie bei einem Aufenthalt in den USA zu tun haben werden, teilt. Diese kulturbezogenen Kenntnisse sollen Ihnen in der Anfangsphase Ihres USA-Einsatzes helfen, zunächst verwirrende Erlebnisse sinnvoll zu interpretieren, Reaktionen Ihrer amerikanischen Partner richtig einzuschätzen und kulturangemessene Handlungsstrategien zu entwerfen. Gleichzeitig möchten wir unsere Leser ermutigen, diese allgemeinen Aussagen über die amerikanische Kultur kritisch an den eigenen Erfahrungen zu messen. Spätestens dann, wenn Sie selbst mit Amerikanern in Kontakt treten, werden Sie feststellen, daß es sich bei den gelernten Kulturmerkmalen um Verallgemeinerungen handelt, die häufig, aber nicht immer zutreffen.
 
 

 Trainingsabschnitt 6

 1 Kontaktorientierung
 

Das Kulturmerkmal Kontaktorientierung bezieht sich darauf, wie in den USA persönliche Vertrauensverhältnisse aufgebaut werden, wie sich soziale Kontakte entwickeln und wie zwischenmenschliche Beziehungsmuster interpretiert werden. Für das amerikanische Kontaktverhalten ist die Offenheit von peripheren Lebensbereichen bei g1eichzeitiger Verschlossenheit von zentralen Persönlichkeitsbereichen charakteristisch.

Fall 33: Montag morgen im Büro

Andrea Meyer arbeitet seit einigen Wochen in der Personalabteilung der New Yorker Filiale einer deutschen Bank. Abgesehen von den üblichen Eingewöhnungsschwierigkeiten fühlt sie sich sowohl beruflich als auch privat sehr wohl. Angenehm überrascht ist sie vor allem von der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die ihr von den amerikanischen Kollegen entgegengebracht werden.
Als sie Montag morgen ins Büro kommt, fragt sie ihre Kollegin Judy: „Hallo Andrea, how are you? How was your weekend?“. Daraufhin fängt Andrea an, von ihrem feuchtfröhlichen Wochenendausflug und den Kopfschmerzen, die sie heute plagen, zu erzählen. Leicht irritiert geht die Kollegin zu geschäftlichen Dingen über. Andrea Meyer überlegt, ob sie etwas Falsches gesagt hat.

Was kann das Verhalten der amerikanischen Kollegin ausgelöst haben?

1. Die amerikanische Kollegin ist von der Geschichte peinlich berührt.
2. Die Kollegin wollte eigentlich gar nicht wissen, wie ihr Wochenende war, sondern ihr nur einen guten Morgen wünschen.
3. Niemand gibt in den USA offen zu, dass es ihm nicht gut geht. Deshalb ist die Kollegin über die Antwort irritiert.
4. Die Kollegin hat wahrscheinlich am Wochenende nichts Aufregendes erlebt und versucht deshalb, von diesem unangenehmen Thema abzulenken.

Rückmeldung Antwort 1:
Die amerikanische Kollegin ist von der Geschichte peinlich berührt.
(US-Manager: 23%; deutsche Manager: 4%)

Die amerikanische Kollegin wird von der Geschichte zwar nicht peinlich berührt sein, aber es ist durchaus denkbar, dass sie die Erzählung von Frau Meyer als zu privat empfindet. Entgegen einem häufig anzutreffenden Klischee ist Privacy in den USA heilig. Amerikaner erkundigen sich zwar gerne nach privaten Dingen, wenn sie Small talk betreiben, sie bohren aber nicht zu tief im Privatleben ihrer Mitmenschen herum.

Rückmeldung zu Antwort 2:
Die Kollegin wollte eigentlich gar nicht wissen, wie ihr Wochenende war sondern ihr nur einen guten Morgen wünschen.
(US-Manager: 58%; deutsche Manager: 84%)

Das ist richtig. Bei der Frage „How are you?“ will eigentlich niemand so genau wissen, wie es dem anderen geht. Vielmehr dienen derartige Floskeln dazu, die Alltagskommunikation freundlich zu gestalten und die Zusammenarbeit zu harmonisieren. Erwartet wird in diesem Beispiel meist lediglich die stereotype Antwort „Fine, how are you?“; detailliertere Ausführungen, etwa zum Gesundheitszustand, werden als zu persönlich aufgefasst. Deutsche empfinden dieses Verhalten oftmals als oberflächlich und bewerten es negativ. Höfliche Grußformeln erfüllen aber eine wichtige Funktion im amerikanischen Arbeitsleben, indem sie die Beziehungen untereinander fördern.

Rückmeldung zu Antwort 3:
Niemand gibt in den USA offen zu, dass es ihm nicht gut geht.
Deshalb ist die Kollegin über die Antwort irritiert.
(US-Manager: 12%; deutsche Manager: 12%)

Das ist nicht ganz falsch. Im gesundheitsbewussten Amerika ist es in der Tat ungewöhnlich, dass jemand über seinen Gesundheitszustand klagt. Dieser Umstand trifft aber nicht den Kern des Problems. Im vorliegenden Beispiel hat die deutsche Kollegin einfach nicht den Beziehungsaspekt der Frage »How are you?« verstanden. Wie bereits erläutert wurde, handelt es sich dabei lediglich um eine Grußformel, bei der man sich nicht detailliert zu seinem Befinden äußert. Möchte man dennoch etwas Persönliches mit einfließen lassen, dann nur positive Nachrichten. Anders verhält es sich, wenn zwischen den Personen eine engere Beziehung besteht.

Rückmeldung zu Antwort 4:
Die Kollegin hat wahrscheinlich am Wochenende nichts Aufregendes erlebt und versucht deshalb, von diesem unangenehmen
Thema abzulenken
(US-Manager: 8%; deutsche Manager: 0%)

Diese Erklärung kann schon deshalb nicht zutreffen, weil mit der Floskel „How was your weekend?“ keine eingehende Diskussion der Wochenendaktivitäten des Gesprächspartners intendiert wurde.
 

Fall 34: Verabredung auf dem Seminar

Während eines Seminars an einer Business-School lernt Rainer Possinger, der seit kurzem für einen großen deutschen Automobilkonzern in den USA tätig ist, Gary Douglas kennen. Beide verstehen sich auf Anhieb prächtig, zumal sie feststellen, dass sie im selben Stadtteil von Detroit wohnen und in ihrer Freizeit ähnlichen Hobbys nachgehen. Sie vereinbaren spontan, sich nach dem Ende des Seminars privat zu treffen.
Eine Woche nach dem Seminar ruft Herr Possinger bei Mr. Douglas an, um sich zu verabreden. Dieser ist jedoch beruflich so stark eingespannt, dass er in den nächsten Wochen keine Möglichkeit zu einem Treffen sieht. Er vertröstet Rainer Possinger deshalb auf einen späteren Termin. Nachdem Herr Possinger wochenlang nichts von seinem neuen Bekannten gehört hat, greift er erneut zum Telefon. Wieder ist Mr. Douglas zu beschäftigt, um sich zu verabreden. Rainer Possinger ist darüber sehr enttäuscht und beschließt, Mr. Douglas zukünftig nicht mehr anzurufen.

Wie beurteilen Sie das Verhalten von Mr. Douglas?

1. Mr. Douglas hat nie ernsthaft vorgehabt, sich mit Herrn Possinger zu treffen.
2. Mr. Douglas steht beruflich so unter Druck, dass er ein Treffen mit Herrn Possinger nicht einrichten kann.
3. Amerikaner sind anfangs immer begierig, neue Bekanntschaften zu schließen, ändern aber schnell ihre Meinung und haben dann plötzlich kein Interesse mehr.
4. Mr. Douglas hat die Verabredung mit Herrn Possinger ehrlich gemeint, war aber in Seminarstimmung. Zurück im Berufsalltag sah alles schon wieder anders aus.

Rückmeldung zu Antwort 1:
Mr. Douglas hat nie ernsthaft vorgehabt, sich mit Herrn  Possinger
zu treffen.
(US-Manager: 35%; deutsche Manager: 15%)

Ja, vieles spricht dafür, dass diese Antwort richtig ist. Herr Possinger hat das Verhalten von Mr. Douglas fehlinterpretiert. Amerikaner sind ausgesprochen offene Menschen. Sie knüpfen gerne und schnell Kontakte, auch zu Personen, die sie voraussichtlich nie wieder sehen werden. Bei sozialen Kontakten werden häufig Floskeln verwendet, die Deutsche zuweilen missverstehen. So wird leicht einmal dahingesagt, jemanden einladen zu wollen oder gemeinsam etwas zu unternehmen, auch wenn dies nicht so ernsthaft beabsichtigt wird. Vielmehr dienen derartige Floskeln dazu, dem anderen Interesse an seiner Person zu signalisieren und Sympathie zu bekunden. Deshalb ist es wichtig, bei Gesprächen mit Amerikanern genau auf die Untertöne zu achten.

Rückmeldung zu Antwort 2:
Mr. Dow glas steht beruflich so unter Druck, dass er ein Treffen
mit Herrn Possinger nicht einrichten kann.
(US-Manager: 27%; deutsche Manager: 19%)

Diese Möglichkeit kann natürlich nicht ausgeschlossen werden. Im amerikanischen Geschäftsleben sind Phasen, in denen man unter einem extremen Termindruck steht, nicht selten (siehe Handlungs-/Ergebnisorientierung, Seite 185). Für den geschilderten Sachverhalt gibt es aber eine plausiblere Erklärung.

Rückmeldung zu Antwort 3:
Amerikaner sind anfangs immer begierig neue Bekanntschaften zu schließen, ändern aber schnell ihre Meinung und haben dann plötzlich kein Interesse mehr.
(US-Manager: 12%; deutsche Manager: 42%)
Das ist pauschal sicherlich nicht richtig. Die für die amerikanische Gesellschaft kennzeichnende Schnelllebigkeit und Dynamik wirkt sich natürlich auch auf den Verlauf von sozialen Beziehungen aus. Amerikaner knüpfen leicht Kontakte, ohne damit notwendigerweise eine tiefergehende Kontaktabsicht zu verbinden. Bei Deutschen entsteht deshalb oft der Eindruck, dass ihre amerikanischen Bekannten, die anfangs noch so aufgeschlossen waren, später kein Interesse mehr an ihnen haben.

Rückmeldung zu Antwort 4:
Mr. Dow glas hat die Verabredung mit Herrn Possinger ehrlich gemeint, war aber in Seminarstimmung. Zurück im Berufsalltag sah alles schon wieder anders aus.
(US-Manager: 27%; deutsche Manager: 23%)

Es ist möglich, dass die positive „Seminarstimmung« zu dem geschilderten Verhalten beigetragen hat. Grundsätzlich gehören Weiterbildungsseminare aber für amerikanische Fach- und Führungskräfte zum normalen Berufsalltag. Sie verfolgen mit dem Besuch von Weiterbildungsveranstaltungen klare Zielsetzungen, wie etwa die Verbesserung ihrer Karrierechancen, und sind auf derartigen Seminaren nicht ausgelassener als sonst.
 

Fall 35: Einladung zum Barbecue

Kai Wassmann lebt mit seiner Familie in Hartfort, Connecticut, wo er die amerikanische Niederlassung eines deutschen Versicherungsunternehmens leitet. Mit ihren Nachbarn, den Millers, verbindet die Familie Wassmann ein fast freundschaftliches Verhältnis. Heute haben die Millers sie zum Barbecue eingeladen.
Beim Essen unterhält man sich über die verschiedensten Themen, angefangen vom Münchner Oktoberfest bis hin zur Niederlagenserie des lokalen Eishockey-Teams. Kommt man jedoch auf politische Dinge oder gesellschaftliche Probleme zu sprechen, lenken die Millers sofort auf belanglosere Themen über.

Warum möchte sich die amerikanische Familie nicht über diese Themen unterhalten?

1. Amerikaner unterhalten sich bei einem Barbecue nicht gerne über problematische Themen. In der Freizeit möchte man sich entspannen und über angenehme Dinge sprechen.
2. Amerikaner fühlen sich schnell persönlich angegriffen und gehen deshalb kritischen Themen lieber von vornherein aus dem Weg.
3. Amerikaner empfinden diese Themen als nicht der Rede wert.
4. Amerikaner haben nicht die Allgemeinbildung, um sich über weltpolitische Themen zu unterhalten. Sie versuchen dies durch Unterhaltungen über Belanglosigkeiten zu kaschieren.

Rückmeldung zu Antwort 1:
Amerikaner unterhalten sich bei einem Barbecue nicht gerne über problematische Themen. In der Freizeit möchte man sich entspannen und über angenehme Dinge sprechen.
(US-Manager: 81 %; deutsche Manager: 42%)

Ja, das stimmt wirklich. Während Deutsche in ihrer Freizeit gerne politisieren und sich über „ernsthafte<‘ Themen unterhalten, haben Amerikaner ein anderes Verständnis von Freizeitgestaltung. Sie möchten sich zerstreuen und konfliktgeladene Themen möglichst vermeiden. Die Freizeitgestaltung steht unter dem Motto have fun. Die Tatsache, dass man sich in seiner Freizeit den Spaß am Leben nicht verderben lassen möchte, bedeutet aber keineswegs, dass man den Ernst von gesellschaftlichen Problemen wie Rassismus, Aids usw. verkennt. Viele Amerikaner sind in ihrer Freizeit ehrenamtlich sozial tätig. Bisweilen lassen sich soziales Engagement und Vergnügen sogar trefflich verbinden, wie etwa im Falle von Gala- und Benefizdiners, bei denen prominente Künstler auftreten.

Rückmeldung zu Antwort 2:
Amerikaner fühlen sich schnell persönlich angegriffen und gehen
deshalb kritischen Themen lieber von vornherein aus dem Weg.
(US-Manager: 15%; deutsche Manager: 12%)

Nein, das kann man nicht behaupten. Amerikaner sind bei anderen Anlässen durchaus bereit, sich auf ein kritisches Gespräch einzulassen — allerdings nicht bei einem Gartenfest, zu dem man Gäste eingeladen hat und bei dem man sich amüsieren möchte.

Rückmeldung zu Antwort 3:
Amerikaner empfinden diese Themen als nicht der Rede wert.
(US-Manager: 0%; deutsche Manager.‘ 15%)

Diese Erklärung ist unzutreffend. Amerikaner gehen sicherlich mit mehr Gelassenheit und größerem Optimismus an Probleme heran als Deutsche. Es ist auch richtig, dass viele weltpolitische Themen, wie etwa der europäische Einigungsprozess, die Probleme bei der Wiedervereinigung Deutschlands oder die Umwälzungen in Osteuropa, für viele Amerikaner sehr weit weg sind. Das bedeutet aber nicht, dass sie generell unkritischer sind oder ernsthafte Themen als nicht der Rede wert erachten.

Rückmeldung zu Antwort 4:
Amerikaner haben nicht die Allgemeinbildung, um sich über
weltpolitische Themen zu unterhalten. Sie versuchen dies durch
Unterhaltungen über Belanglosigkeiten zu kaschieren.
(US-Manager.‘ 4%; deutsche Manager.‘ 31%)

Diese voreilige Schlussfolgerung ziehen Deutsche häufig aufgrund derartiger Erlebnisse. Amerikaner als ungebildet oder weltpolitisch desinteressiert zu bezeichnen, ist aber eine grobe Verallgemeinerung. Zwar sind Teile der Bevölkerung tatsächlich recht desinformiert, was die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Europa oder in anderen Teilen der Welt betrifft. Die Personen, mit denen deutsche Geschäftsreisende und Unternehmensentsandte in den USA zu tun haben, weisen aber meist eine gute (Aus-)Bildung auf. Die Upper middle class der Manager, Arzte, Rechtsanwälte usw. ist politisch wie kulturell sehr interessiert.
 

Fall 36: Aus den Augen, aus dem Sinn?

Torsten und Verena Kolb leben seit zwei Jahren in einem Vorort von Chicago, wo Torsten Kolb in der Niederlassung eines deutschen Elektrokonzerns tätig ist. Die Kolbs haben sich in dieser Zeit gut eingelebt und viele amerikanische Bekannte gewonnen. Leider werden ihre besten Freunde, George und Norma Harns, in Kürze umziehen, weil George eine neue Stelle an der Ostküste angenommen hat.
Beim letzten gemeinsamen Abendessen versichert man einander, trotz der Entfernung in Kontakt zu bleiben, und schmiedet Pläne für einen Besuch am neuen Wohnort der Familie Harns. Da George und Norma noch kein geeignetes Haus gefunden haben, versprechen sie den Kolbs, sobald sie fündig geworden sind, umgehend ihre neue Anschrift zu senden.
Monate vergehen, ohne dass die Kolbs von ihren alten Freunden hören. Schließlich, nach fast einem Jahr, meldet sich Norma Harns telefonisch mit der Nachricht, dass sie und ihr Mann nächste Woche für einige Tage nach Chicago kämen und sich gerne mit ihnen treffen würden. Torsten und Verena Kolb sind darüber sehr enttäuscht. Nicht nur haben sich George und Norma eine Ewigkeit nicht gemeldet; sie haben offensichtlich nur deshalb wieder den Kontakt aufgenommen, weil sie zufällig in der Gegend zu tun haben.

Wie beurteilen Sie das Verhalten des amerikanischen Ehepaars?

1. Das Erlebnis des Ehepaars Kolb verdeutlicht, dass Amerikaner ziemlich oberflächliche Beziehungen zu ihren Mitmenschen unterhalten.
2. Die Freundschaft zwischen den beiden Ehepaaren war aus der Sicht der Amerikaner nicht so eng, dass sie nach dem Umzug noch ein Interesse an ihrer Fortsetzung hatten.
3. Amerikanern fällt es leicht Freunde zu erwerben, sie können sich aber schnell wieder von ihnen lösen, wen beispielsweise ein Ortswechsel ansteht.
4. Das Ehepaar Harns war durch den Umzug und die Eingewöhnung am neuen Wohnort so beschäftigt, dass es einfach keine Zeit hatte, alte Kontakte zu pflegen.

Rückmeldung zu Antwort 1:
Das Erlebnis des Ehepaars Kolb verdeutlicht, dass Amerikaner ziemlich oberflächliche Beziehungen zu ihren Mitmenschen unterhalten.
(US-Manager: 0%; deutsche Manager: 14%)

Aufgrund derartiger Erlebnisse ziehen Deutsche häufig die vor-eilige Schlussfolgerung, dass Amerikaner bloß zu oberflächlichen Beziehungen fähig seien. Dahinter verbirgt sich meist die Enttäuschung, dass sich aus einer Bekanntschaft keine dauerhafte oder tiefergehende Freundschaft entwickelt hat. Amerikaner pflegen in der Regel lockere und weniger beständige Kontakte als die Deutschen, die dagegen lieber wenige, aber sehr vertraute Freunde besitzen. Es gibt natürlich auch bei Amerikanern enge Freundschaften, die über eine weite Distanz hinweg erhalten bleiben. Solche tiefergehenden Beziehungen entwickeln sich aber meist in einem sehr langwierigen Prozess.

Rückmeldung zu Antwort 2:
Die Freundschaft zwischen den beiden Ehepaaren war aus der
Sicht der Amerikaner nicht so eng, dass sie nach dem Umzug
noch ein Interesse an ihrer Fortsetzung hatten.
(US-Manager: 36%; deutsche Manager: 54%)

Das ist möglich. Freundschaften weisen in den USA — wenn man das amerikanische Verständnis des Wortes friend zugrunde legt — nicht unbedingt ein so hohes Maß an Intimität auf wie in Deutschland. Freundschaften beruhen überwiegend auf gemeinsamen Interessen, weniger auf einer tiefergehenden Wesensverwandtschaft oder auf persönlichen Erfahrungen, die man mit dem anderen teilt. Fallen die gemeinsamen Interessen weg oder zieht man an einen anderen Ort, bricht damit häufig auch der Kontakt ab.

Rückmeldung zu Antwort 3:
Amerikanern fällt es leicht Freunde zu erwerben, sie können sich
aber schnell wieder von ihnen lösen, wenn beispielsweise ein
Ortswechsel ansteht.
(US-Manager: 42%; deutsche Manager: 28%)

Das ist richtig. Dadurch dass Bekanntschaften überwiegend auf gemeinsamen Interessen beruhen, entwickeln sich freundschaftliche Beziehungen zwischen Amerikanern meist deutlich schneller als zwischen Deutschen. Hinter der anfänglichen Kontaktbereitschaft verbirgt sich aber nicht unbedingt eine tiefergehende oder dauerhafte Interaktionsabsicht. Der Schritt von einem ungezwungenen Kontakt hin zu einer tieferen Vertrautheit ist in den USA nur schwer zu überwinden. Daher können sich Amerikaner auch verhältnismäßig leicht von Bekannten lösen, wenn beispielsweise ein Ortswechsel ansteht oder die gemeinsamen Interessen doch nicht so groß sind, wie ursprünglich angenommen wurde.

Rückmeldung zu Antwort 4:
Das Ehepaar Harns war durch den Umzug und die Eingewöhnung am neuen Wohnort so beschäftigt, dass es einfach keine Zeit hatte, alte Kontakte zu pflegen.
(US-Manager: 22%; deutsche Manager: 4%)

Das kann nicht ausgeschlossen werden. Wie an anderer Stelle erläutert wird (siehe Individualismus, Seite 27), ist die Schonphase nach einem Arbeitsplatzwechsel in den USA nur von kurzer Dauer. Von neu eingestellten Mitarbeitern wird erwartet, dass sie sich zügig einarbeiten und ein großes Engagement an den Tag legen. Auch im privaten Bereich kann ein Umzug mit großen Veränderungen einhergehen, so dass das Ehepaar Harns seine geringe Freizeit möglicherweise für die Eingewöhnung am neuen Wohnort benötigte und einfach keine Zeit hatte, sich um alte Kontakte zu kümmern.
 

Fall 37: Britta Baummann

Britta Wortmann arbeitet seit einigen Monaten als Praktikantin bei einem deutschen Bekleidungsunternehmen in New York. Während des Urlaubs in Florida hat sie sich in George, einen politischen Flüchtling aus Schwarzafrika, verliebt. Zurück in New York, wird Britta gleich von ihren Kolleginnen ausgefragt. Voller Begeisterung erzählt sie von ihrem Traummann. Da sie nicht weiß, wie lange er sich noch in den USA aufhalten darf, ist Britta sehr besorgt. Sie ist froh, endlich mal mit jemandem über ihre Sorgen sprechen zu können, und beginnt die näheren Umstände zu erläutern. Leider merkt sie schnell, dass ihre Kolleginnen doch nicht so an ihren Problemen interessiert sind, da sie bereits beim nächsten Stichwort auf ein anderes Thema umzuschwenken. Britta ist von ihren Kolleginnen enttäuscht.

Was veranlasst die Kolleginnen Ihrer Meinung nach zu ihrem Verhalten?

1. Amerikaner reden nicht gerne über Probleme, sondern plaudern lieber über unverfängliche Dinge.
2. Die Kolleginnen wollen Frau Wortmann nicht zu nahe treten, da sie denken, dass das Thema für sie unangenehm ist.
3. Man unterhält sich am Arbeitsplatz nicht über derart private Dinge.
4. Amerikaner sind weltpolitisch nicht besonders interessiert und können die Probleme von politischen Flüchtlingen kaum nachvollziehen. Sie wechseln in solchen Fällen lieber schnell das Thema.

Rückmeldung zu Antwort 1:
Amerikaner reden nicht gerne über Probleme, sondern plaudern
lieber über unverfängliche Dinge.
(US-Manager: 27%; deutsche Manager: 35%)

Das wäre eine mögliche Erklärung. Amerikanern ist die in Deutschland verbreitete Neigung, Dinge zu problematisieren und sich ausgiebig über Missstände zu beklagen, eher fremd. Beim Small talk in der Firma unterhält man sich lieber über unverfängliche Themen. Ernsthafte private Probleme werden kaum besprochen. Nach außen hin versuchen Amerikaner meist den Eindruck zu erwecken, dass es ihnen gut geht. Selbstverständlich gibt es auch hier Ausnahmen. Worüber man mit wem wie offen spricht, hängt in erster Linie davon ab, wie vertrauensvoll die Beziehung zwischen den Gesprächspartnern ist.

Rückmeldung zu Antwort 2:
Die Kolleginnen wollen Frau Wortmann nicht zu nahe treten, da
sie denken, dass  das Thema für sie unangenehm ist.
(US-Manager: 19%; deutsche Manager: 19%)

Auch wenn dies nicht auszuschließen ist, lässt es sich aus dem beschriebenen Zusammenhang heraus nicht erkennen. Frau Wortmann hat das Thema schließlich selbst angesprochen.

Rückmeldung zu Antwort 3:
Man unterhält sich im Arbeitsleben nicht über derart private
Dinge.
(US-Manager: 50%; deutsche Manager: 27%)

Mit dieser Antwort haben Sie den entscheidenden Grund erfasst. Im amerikanischen Arbeitsleben gibt es genaue Konventionen, worüber man sich bei welchen Anlässen unterhält. Amerikaner sind keineswegs so informell, wie oftmals angenommen wird. Beruf und Privatsphäre werden streng getrennt, was nicht ausschließt, dass man sich auf einer Small-talk-Basis gerne über gemeinsame Hobbys, die Familie usw. unterhält. In Einzelfällen, wenn Kollegen ein vertrautes Verhältnis zueinander haben, wird selbstverständlich auch in den USA über private Dinge gesprochen. In dem angeführten Beispiel sind Frau Wortmanns Kolleginnen aber der Auffassung, dass sie diese persönlichen Dinge nichts angehen.

Rückmeldung zu Antwort 4:
Amerikaner sind weltpolitisch nicht besonders interessiert und können die Probleme von politischen Flüchtlingen kaum nachvollziehen. Sie wechseln in solchen Fällen lieber schnell das Thema.
(US-Manager: 4%; deutsche Manager: 19%)

Nein, das ist nicht richtig. Diese Antwort hängt offenbar mit dem Vorurteil zusammen, dass Amerikaner sich weder für weit-politische Themen interessieren noch genauere Kenntnisse über Ereignisse außerhalb der USA besitzen. Wie aber bereits an anderer Stelle dieses Trainingsabschnitts erläutert wurde, handelt es sich hierbei um eine grobe Verallgemeinerung. Was die Probleme von politischen Flüchtlingen betrifft, sind Amerikaner sicherlich in hohem Maße sensibilisiert, da die USA ein Einwanderungsland ist und viele Amerikaner selbst Flüchtlingserfahrungen gemacht haben. An dieser Stelle sei nur an die große Zahl von emigrierten Juden, Exil-Kubanern oder politischen Flüchtlingen aus Vietnam und China erinnert, die in den USA leben.
 

Kontaktorientierung

Dieser Trainingsabschnitt bezog sich auf das Kulturmerkmal Kontaktorientierung. Die Fallbeispiele verdeutlichen, wie in den USA persönliche Vertrauensverhältnisse aufgebaut werden, wie sich soziale Kontakte entwickeln und wie zwischenmenschliche Beziehungsmuster interpretiert werden.
Die Erwartungen von Amerikanern und Deutschen über den Verlauf und Ausgang von zwischenmenschlichen Begegnungen weichen meist erheblich voneinander ab.54 Für das amerikanische Sozialverhalten ist die Offenheit von peripheren Lebensbereichen bei gleichzeitiger Verschlossenheit von zentralen Persönlichkeitsbereichen charakteristisch. Im Alltagsleben folgen Amerikaner üblicherweise dem Gebot der „Distanzminimierung“: Sie knüpfen schnell Kontakte, ohne damit eine tiefergehende oder dauerhafte Beziehung anzustreben. Eine Unterhaltung zwischen Fremden kommt schnell in Gang, sei es in der Subway, im Theater oder anderswo. Man geht freundlich aufeinander zu, sucht den sozialen Kontakt und plaudert über dies und jenes, ohne dabei weitergehende Erwartungen in seinen Gesprächspartner zu setzen.
Der in die USA emigrierte Sozialpsychologe Kurt Lewin55 hat beobachtet: „Compared with Germans, Americans seem to make quicker progress toward friendly relations in the beginning, and with many more persons. Yet this development often stops at a certain point.“ Bezüglich der zentralen Persönlichkeitsbereiche sind Amerikaner mindestens ebenso verschlossen wie Deutsche. Ihre Privatsphäre ist ihnen heilig. Tiefwurzelnde persönliche Überzeugungen, Probleme oder Gefühle werden anderen Personen nur selten anvertraut. Auch freundschaftliche Beziehungen enden meist an diesem Punkt.56 Freundschaften entstehen mehr aus gemeinsamen Interessen heraus und weniger aus dem Teilen von persönlichen Erfahrungen oder aus der Offenbarung des eigenen Seelenzustandes. Probleme lösen Amerikaner entweder allein oder, wenn es an einer vertrauensvollen Freundschaft fehlt, mit einem Fachmann. Mit Freunden genießt man lieber die schönen Seiten des Lebens und geht gemeinsamen Interessen nach.
Die Tatsache, dass Freundschaften sich überwiegend auf der Grundlage von gemeinsamen Interessen und Aktivitäten entwickeln, führt zu einer gewissen Spezialisierung in den sozialen Beziehungen.57 So unterscheiden Amerikaner relativ strikt zwischen Bekannten, die man von der Arbeit her kennt, und solchen, mit denen man die Freizeit verbringt. Im Extremfall hat man seine Arbeitskollegen, die Tennis-Freunde, die Skat-Freunde usw., wobei sich die unterschiedlichen Freundeskreise kaum überlappen. Wirkliche Probleme bespricht man, wenn überhaupt, nur mit den „besten Freunden“, die man oftmals noch von der Schule oder von der Universität kennt.
Wenn Amerikaner von einem friend sprechen, meinen sie in den seltensten Fällen einen „Freund“ im deutschen Wortsinn, d.h. eine Person, mit der man eine enge und vertrauensvolle Beziehung unterhält. Meist bezieht sich dieser Ausdruck auf einen —bisweilen flüchtigen — Bekannten, ohne Bewertung der Intensität dieser Beziehung. Oftmals meiden Amerikaner enge Beziehungen, weil sie fürchten, dadurch an Unabhängigkeit einzubüßen. Wie an anderer Stelle aufgezeigt wird, orientiert sich die Erziehung am Ideal der unabhängigen und selbständigen Persönlichkeit. Natürlich gibt es auch bei Amerikanern tiefergehende Freundschaften mit einem hohen Maß an gegenseitiger Vertrautheit, doch wird ihnen bei weitem nicht so eine große Bedeutung beigemessen wie in Deutschland, wo sich freundschaftliche Beziehungen sehr viel langsamer entwickeln, meist intimer sind und stärker auf die verschiedenen Lebensbereiche ausstrahlen.
Diese kulturspezifischen Eigenheiten in der Kontaktorientierung verdeutlichen, warum Amerikaner verhältnismäßig leicht Freunde erwerben, sich aber oftmals ebenso schnell wieder von ihnen lösen, wenn beispielsweise ein Ortswechsel ansteht. Sie erklären auch, weshalb es Deutschen, die in den USA leben, so schwer fällt, dauerhafte oder tiefergehende Freundschaften zu etablieren. Diese Hürde ist nur schwer zu überwinden.58 Nicht zuletzt deshalb ist bei vielen Deutschen das Vorurteil verbreitet, dass Amerikaner nur zu oberflächlichen Beziehungen fähig seien. Meist verbirgt sich hinter dieser Feststellung die Erfahrung, dass die anfänglich so hilfsbereiten und offenen Amerikaner gar nicht an einer tiefergehenden Beziehung interessiert sind.
Zur Einschätzung, dass Amerikaner oberflächlich seien, trägt auch der Umstand bei, dass sie im täglichen Umgang miteinander offener und mitteilsamer sind als Deutsche. Floskeln wie How arc you doing?, Good for you usw. zeigen nicht unbedingt ein persönliches Interesse an dem Gesprächspartner, sondern sollen — in der Regel unbewusst — ausdrücken, dass man ein umgänglicher Zeitgenosse ist. Deutsche, die bei Begegnungen mit entfernt bekannten Personen meist eine größere Distanz an den Tag legen, gewinnen aufgrund., derartiger Höflichkeitsfloskeln mitunter den Eindruck, dass Freundlichkeit im amerikanischen Wertesystem Vorrang vor Ehrlichkeit hat. Diese Vermutung liegt etwa dann nahe, wenn eine Ausrede vorgeschoben wird, um eine unliebsame Einladung auszuschlagen. Die Direktheit, mit der Deutsche Ablehnung oder Kritik formulieren, wird von Amerikanern aber als unhöflich empfunden.59 Mit einer kleinen Ausrede, etwa einem Sorry, 1 am busy, kann man auf indirekte und weniger verletzende Weise deutlich machen, daß man nicht an einer Verabredung interessiert ist. Meist wird dies vom Gesprächspartner auch so verstanden und akzeptiert.
Von den höflichen und rücksichtsvollen Umgangsformen in den USA sollte man sich nicht zu der Annahme verleiten lassen, dass der amerikanische Kommunikationsstil besonders indirekt oder blumig sei. Dies ist gewiss nicht der Fall. Nach den Ergebnissen des Kulturanthropologen Edward T. Hall zur „Kontextabhängigkeit« der Kommunikation in verschiedenen Ländern verständigen sich Amerikaner zwar weniger explizit als die Deutschen, aber sehr viel direkter als beispielsweise die Franzosen, die Lateinamerikaner oder die Asiaten.60 Wenn man zu lange beim Small talk verweilt oder um ein Thema herumredet, kann es passieren, dass man von den amerikanischen Gesprächspartnern für umständlich oder unaufrichtig gehalten wird.
Gleichwohl ist es wichtig zu wissen, dass bei bestimmten Gesprächsgegenständen in den USA Zurückhaltung geboten ist. Über kontroverse Themen wie Religion oder Politik, die für einen Deutschen auch in oberflächlichen Beziehungen akzeptabel erscheinen, sprechen Amerikaner nur mit Personen, die sie besser kennen — die Meinungen zu diesen Themen könnten ja auseinandergehen und zu einem Streitgespräch führen, eine Gesprächsform, die Amerikaner lieber meiden. Gary Althen61 führt weitere Situationen an, in denen Amerikaner zu indirekten oder ausweichenden Antworten neigen:

Americans are reluctant to speak openly when the topic is in an area they consider excessively personal (…); they want to say “no” to a request that has been made of them but do not want to offend or hurt the feelings of the person who made the request; they are not well enough acquainted with the other person to be confident that direct discussion will be accepted in the constructive way that is intended; and, paradoxically, they know the other person very well (it might be a spouse or dose friend) and they do not wish to risk giving offense and creating negative feelings by talking about some delicate problem.

Auch wenn man als Deutscher in den USA einen Ausländerbonus genießt und amerikanische Partner über kleinere Regelverletzungen meist mit Nonchalance hinwegsehen, ist man gut beraten, diese grundlegenden Gesprächsregeln einzuhalten. Sollte dennoch eine Meinungsverschiedenheit offen zutage treten, so lautet die Devise: „Ruhe bewahren!“ Eine laute Stimme, heftiges Gestikulieren oder Unterbrechen des Gesprächspartners gelten als unangemessen und aggressiv.
 
 

Fall 38: Einsam im Fitnesscenter

Ein „Gegenbeispiel“ zum Kulturmerkmal Kontaktorientierung

Dirk Kahnemann wurde vor einigen Wochen von seinem Unternehmen in die USA entsandt. Da sich bei der Arbeit bislang noch keine günstige Gelegenheit ergeben hat, um Kontakte zu knüpfen und Leute näher kennen zu lernen, entschließt er sich, dem Fitnesscenter seiner Firma beizutreten.
Herr Kahnemann trifft dort auf einige Kollegen, die er vom Sehen kennt. Sie begrüßen ihn mit einem kurzen Hello und widmen sich ansonsten voll und ganz ihren sportlichen Aktivitäten. Viele von ihnen haben einen Walkman auf, so dass kaum miteinander gesprochen wird.
Herr Kahnemann ist über dieses Verhalten sehr überrascht. Zum einen ist er aus Deutschland eine ganz andere Atmosphäre in Fitnesscentern gewöhnt, zum anderen hat er die Amerikaner für viel kontaktfreudiger gehalten.

Wie beurteilen Sie das Verhalten
der amerikanischen Kollegen Im Fitnesscenter?

1. Man möchte mit Leuten, die man ohnehin den ganzen Tag in der Firma sieht, nicht auch noch in der Freizeit zusammensein.
2. Die Amerikaner möchten lieber unter sich bleiben. Einem Deutschen hätten sie vermutlich nicht viel zu erzählen.
3. Man möchte sich in erster Linie entspannen und richtig abschalten, so dass keine Gespräche unter den Kollegen zustande kommen.
4. Amerikaner sind Fitnessfanatiker, die sich voll auf das Training konzentrieren möchten.

Die Rückmeldungen zu Fall 38 finden Sie auf den nächsten Seiten.

Rückmeldung zu Antwort 1:
Man möchte mit Leuten, die man ohnehin den ganzen Tag in der
Firma sieht, nicht auch noch in der Freizeit zusammensein.
(US-Manager: 12%; deutsche Manager: 27%)

Das mag zu dem Verhalten der amerikanischen Kollegen beigetragen haben, auch wenn es nicht der Hauptgrund ist. Man besucht ein Fitnesscenter in erster Linie, um das Alltagsgeschehen zu vergessen und sich abzulenken. Hierfür wären Gespräche mit den Arbeitskollegen eher abträglich. Dieses Beispiel verdeutlicht auch, dass in den USA relativ strikt zwischen Privatleben und Arbeitsleben getrennt wird.

Rückmeldung zu Antwort 2:
Die Amerikaner möchten lieber unter sich bleiben. Einem Deutschen hätten sie vermutlich nicht viel zu erzählen.
(US-Manager: 0%; deutsche Manager: 31 %)

Nein, dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Deutsche genießen in den USA durchaus ein hohes Ansehen. Zumindest dürfte die Aussicht, sich mit einem deutschen Kollegen, der neu in der Firma ist, zu unterhalten, keinen der amerikanischen Kollegen abgeschreckt haben.

Rückmeldung zu Antwort 3:
Man möchte sich in erster Linie entspannen und richtig abschalten, so dass keine Gespräche unter den Kollegen zustande kommen.
(US-Manager: 50%; deutsche Manager: 42%)

Richtig, das ist die wahrscheinlichste Erklärung. Der Besuch eines Fitnessklubs dient in den USA in erster Linie dazu, sich zu entspannen und abzuschalten. Ein Fitnesscenter hat in diesem Sinne keine soziale Bedeutung. Niemand legt Wert auf das Knüpfen von Kontakten oder auf eine Unterhaltung mit Kollegen. Für gesellige Zusammenkünfte werden in den USA andere Gelegenheiten genutzt. So gibt es außerhalb der Großstädte bei-
Spielsweise Country clubs, die überwiegend der Freizeitgestaltung dienen. Für Entsandte in den USA ist es allerdings nicht immer einfach, sich einem derartigen Klub anzuschließen, da oftmals eine persönliche Empfehlung eines Klubmitglieds für die Aufnahme erforderlich ist.

Rückmeldung zu Antwort 4:
Amerikaner sind Fitnessfanatiker, die sich voll auf das Training
konzentrieren möchten.
(US-Manager: 39%; deutsche Manager: 0%)

Das stimmt. Amerikaner legen tatsächlich sehr viel Wert auf körperliche Fitness und ein attraktives Erscheinungsbild. Entsprechend weit verbreitet sind Health clubs, Schönheitsfarmen und Spezialgeschäfte für gesundheitsbewusste Ernährung. In allen größeren Städten kann man in der Mittagspause Menschen beim Jogging beobachten. Bodybuilder säumen die Strände von Florida und Kalifornien. Aufgrund der großen Bedeutung, die Fitness für das Selbstwertgefühl der Amerikaner hat, ist es durchaus denkbar, dass die Kollegen in dem Fallbeispiel sich lieber auf ihre körperliche Ertüchtigung konzentriert haben als auf ein Gespräch mit Herrn Kahnemann.