Anhang: So entstand das Orientierungsprogramm
1. Gestaltung der Fallbeispiele
Das gesamte Trainingsmaterial beruht auf Erhebungen bei 142 deutschen Fach- und Führungskräften, die mehrheitlich von deutschen Unternehmen in die USA entsandt worden waren oder aber für amerikanische Organisationen arbeiteten. In Form eines ein- bis zweistündigen Interviews baten wir die Untersuchungsteilnehmer, uns kritische Vorfälle (sogenannte Critical incidents) aus ihrem beruflichen oder privaten Leben in den USA zu schildern. Ein kritischer Vorfall musste, um berücksichtigt zu werden, vier Anforderungen genügen.
• Er musste eine alltägliche Begebenheit zum Inhalt haben, bei
der ein deutscher Entsandter mit mindestens einem Amerikaner zusammentrifft.
• Der deutsche Beteiligte musste den Vorfall selbst erlebt haben.
• Der Vorfall musste vom deutschen Entsandten als eigenartig, verwirrend
oder konflikthaltig empfunden worden sein.
• Amerikaner, die mit dem Vorfall konfrontiert wurden, mussten sich
über die Erklärung der Handlungen ihrer Landsleute in dem Fallbeispiel
mehrheitlich einig sein.
In den Interviews wurde detailliert rekonstruiert, was genau bei dem
kritischen Vorfall passierte, was dem Vorfall vorausgegangen war und welche
Folgen der Vorfall für die Beteiligten hatte. Alle Gespräche
wurden mit Erlaubnis der Interviewten auf Tonbandkassette aufgezeichnet.
Die Interviews erbrachten insgesamt ca. 400 kritische Vorfälle.
Nach einer Sichtung des Interviewmaterials wurde die Zahl der kritischen
Vorfälle nach folgenden Gesichtspunkten reduziert:
• Vorfälle, die der Interviewte als sehr außergewöhnlich
bezeichnete, wurden nicht weiter berücksichtigt - der Vorfall sollte
ja eine alltägliche Begebenheit zum Inhalt haben.
• Ausgesondert wurden auch Vorfälle, die sich aus rein fremdsprachlichen
Missverständnissen ergeben hatten, nicht aber Fälle, die allgemeine
Kommunikationsprobleme beinhalteten.
• Aus den Vorfällen, die sich in Inhalt und Ablauf stark ähnelten,
wurde die Problemepisode ausgewählt, zu der die detailliertesten Informationen
vorlagen.
Nach diesem Auswahlprozess verblieben noch etwas mehr als 100 Fallbeispiele,
die in der Textfassung um unwichtige Passagen, Wiederholungen und Gedankensprünge
bereinigt wurden. Zudem wurden die Namen von Personen und Unternehmen durch
fiktive Namen ersetzt, um die Anonymität der Untersuchungsteilnehmer
zu wahren.
Um sicherzustellen, dass diese Vorfälle in deutsch-amerikanischen
Begegnungen häufiger vorkommen, erhielten 40 weitere deutsche Führungskräfte
in den USA einen Fragebogen, der sie aufforderte, die ermittelten Fallbeispiele
danach zu beurteilen, wie oft sie ähnliche Vorfälle schon selbst
erlebt oder im unmittelbaren Arbeitsumfeld beobachtet haben. Nach Wegfall
der Vorfälle, die in der Befragung als nie oder selten erlebt bezeichnet
wurden, verblieben noch 60 Fallbeispiele.
2. Analyse der Fallbeispiele aus deutscher und amerikanischer Sicht
In zwei Gruppendiskussionen mit Amerikanern wurde(n) für jeden
der 60 Vorfälle eine oder mehrere Erklärung(en) des amerikanischen
Verhaltens herausgearbeitet. Eine weitere Verwendung fanden nur Ursachenzuschreibungen,
auf die sich die Gruppe einvernehmlich einigen konnte. Diese Erklärung
repräsentiert bei jedem Fallbeispiel die amerikanische Sichtweise.
Um Interpretationen der kritischen Vorfälle aus deutscher Sicht
zu ermitteln analysierten deutsche Entsandte, die sich erst seit kurzem
in den USA befanden, dieselben kritischen Vorfälle nach möglichen
Ursachen. Die gefundenen Erklärungen spiegelten oftmals Vorurteile
und Wissensdefizite über das Leben und Arbeiten in den USA wider.
Die am häufigsten genannten Ursachenzuschreibungen, die nicht mit
denen der Amerikaner übereinstimmten, wurden zur Formulierung der
übrigen Antwortalternativen herangezogen.
Am Ende dieses Entwicklungsschrittes resultierten vier Erklärungen
für das Verhalten der/des amerikanischen Partner(s) bei jedem kritischen
Vorfall, wovon drei die — vermutlich unzutreffende — deutsche Sichtweise
und eine die — vermutlich zutreffende — amerikanische Perspektive wiedergaben.
3. Überprüfung des Kultureinflusses in den Fallbeispielen
Haben die an den kritischen Vorfällen beteiligten Personen aufgrund
ihrer kulturellen Prägung oder aufgrund individueller Eigenheiten
gehandelt? Dieser Frage widmet sich der dritte Entwicklungsschritt. Sind
kulturelle Einflüsse im Spiel, ist zu erwarten, dass Amerikaner das
Verhalten ihrer Landsleute in den Fallbeispielen eher auf die kulturellen
Besonderheiten zurückführen, die in den Gruppendiskussionen herausgearbeitet
wurden, als Deutsche mit geringen Kenntnissen der amerikanischen Kultur.
Um diese Annahme zu prüfen, haben wir die 60 kritischen Vorfälle
mit den jeweils vier Antwortmöglichkeiten 36 Amerikanern und 42 Deutschen
vorgelegt. Damit verbanden wir die Bitte, die jeweils plausibelste Antwortalternative
auszusuchen.
Die Ergebnisse belegen, dass die befragten Amerikaner bei den meisten
Vorfällen die kulturadäquate Antwort deutlich häufiger
wählten als die deutschen Beurteiler. Einige wege Fallbeispiele,
bei denen nicht der erwartete Unterschied auftrat wurden entweder eliminiert
oder die Beschreibung des kritischen Vorfalls wurde noch stärker auf
die kulturelle Interpretation des amerikanischen Verhaltens ausgerichtet.
Am Ende verblieben 44 Fallbeispiele mit jeweils vier Antwortalternativen,
die von Deutschen und Amerikanern als unterschiedlich zutreffend eingestuft
wurden.
4. Zusammenfassung der Fallbeispiele zu Kulturdimensionen
Um die Fallbeispiele nach Kulturdimension, bei denen sich Amerikaner und Deutsche unterscheiden, zu ordnen, war eine Gruppierung der Vorfälle nach inhaltlichen Kriterien erforderlich. Auf der Grundlage einer umfangreichen Literaturanalyse wurden sieben Trainingsabschnitte mit kritischen Vorfällen gebildet, deren Problemgehalt sich aus deutsch-amerikanischen Unterschieden auf den folgenden Kulturdimensionen ergab:
• Individualismus
• Egalitarismus
• Handlungs-/Ergebnisorientierung
• Wettbewerbsdenken
• Streben nach sozialer Anerkennung
• Kontaktorientierung
• Nationalbewußtsein
Im nächsten Schritt erhielten fünf Beurteiler die Aufgabe,
die 44 Fallbeispiele unabhängig voneinander den ermittelten Kulturdimensionen
zuzuordnen. Im Durchschnitt ergab sich eine 90%ige Übereinstimmung
bei der Zuordnung.
5. Erläuterungen zu den Kulturdimensionen
Jeder Trainingsabschnitt endet mit einer Erläuterung der betreffenden
Kulturdimension. Um die Leser mit Hintergrundinformationen über das
Einsatzland USA auszustatten, haben wir aus verschiedenen Literaturquellen
Angaben zu den im Trainingshandbuch behandelten Kulturmerkmalen, ihren
Auswirkungen im amerikanischen Lebens- und Arbeitsalltag sowie ihren geschichtlichen
Hintergrund entnommen und zusammengefaßt. Die verwendeten Literaturquellen
beinhalten überwiegend wissenschaftliche Fachbücher, aber auch
landeskundliche Werke und populärwissenschaftliche Ratgeber (siehe
Literatur, Seite 230).
Das am Ende jedes Trainingsabschnittes vermittelte Wissen über
die kulturellen Besonderheiten der USA bildet einen vorläufigen Orientierungsrahmen.
Es handelt sich um die Überzeugungen, Werte und Normen, die ein Großteil
der Amerikaner, mit denen Sie bei einem Aufenthalt in den USA zu tun haben
werden, teilt. Diese kulturbezogenen Kenntnisse sollen Ihnen in der Anfangsphase
Ihres USA-Einsatzes helfen, zunächst verwirrende Erlebnisse sinnvoll
zu interpretieren, Reaktionen Ihrer amerikanischen Partner richtig einzuschätzen
und kulturangemessene Handlungsstrategien zu entwerfen. Gleichzeitig möchten
wir unsere Leser ermutigen, diese allgemeinen Aussagen über die amerikanische
Kultur kritisch an den eigenen Erfahrungen zu messen. Spätestens dann,
wenn Sie selbst mit Amerikanern in Kontakt treten, werden Sie feststellen,
daß es sich bei den gelernten Kulturmerkmalen um Verallgemeinerungen
handelt, die häufig, aber nicht immer zutreffen.
Trainingsabschnitt 6
1 Kontaktorientierung
Das Kulturmerkmal Kontaktorientierung bezieht sich darauf, wie in den USA persönliche Vertrauensverhältnisse aufgebaut werden, wie sich soziale Kontakte entwickeln und wie zwischenmenschliche Beziehungsmuster interpretiert werden. Für das amerikanische Kontaktverhalten ist die Offenheit von peripheren Lebensbereichen bei g1eichzeitiger Verschlossenheit von zentralen Persönlichkeitsbereichen charakteristisch.
Fall 33: Montag morgen im Büro
Andrea Meyer arbeitet seit einigen Wochen in der Personalabteilung der
New Yorker Filiale einer deutschen Bank. Abgesehen von den üblichen
Eingewöhnungsschwierigkeiten fühlt sie sich sowohl beruflich
als auch privat sehr wohl. Angenehm überrascht ist sie vor allem von
der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die ihr von den amerikanischen
Kollegen entgegengebracht werden.
Als sie Montag morgen ins Büro kommt, fragt sie ihre Kollegin
Judy: „Hallo Andrea, how are you? How was your weekend?“. Daraufhin fängt
Andrea an, von ihrem feuchtfröhlichen Wochenendausflug und den Kopfschmerzen,
die sie heute plagen, zu erzählen. Leicht irritiert geht die Kollegin
zu geschäftlichen Dingen über. Andrea Meyer überlegt, ob
sie etwas Falsches gesagt hat.
Was kann das Verhalten der amerikanischen Kollegin ausgelöst haben?
1. Die amerikanische Kollegin ist von der Geschichte peinlich berührt.
2. Die Kollegin wollte eigentlich gar nicht wissen, wie ihr Wochenende
war, sondern ihr nur einen guten Morgen wünschen.
3. Niemand gibt in den USA offen zu, dass es ihm nicht gut geht. Deshalb
ist die Kollegin über die Antwort irritiert.
4. Die Kollegin hat wahrscheinlich am Wochenende nichts Aufregendes
erlebt und versucht deshalb, von diesem unangenehmen Thema abzulenken.
Rückmeldung Antwort 1:
Die amerikanische Kollegin ist von der Geschichte peinlich berührt.
(US-Manager: 23%; deutsche Manager: 4%)
Die amerikanische Kollegin wird von der Geschichte zwar nicht peinlich berührt sein, aber es ist durchaus denkbar, dass sie die Erzählung von Frau Meyer als zu privat empfindet. Entgegen einem häufig anzutreffenden Klischee ist Privacy in den USA heilig. Amerikaner erkundigen sich zwar gerne nach privaten Dingen, wenn sie Small talk betreiben, sie bohren aber nicht zu tief im Privatleben ihrer Mitmenschen herum.
Rückmeldung zu Antwort 2:
Die Kollegin wollte eigentlich gar nicht wissen, wie ihr Wochenende
war sondern ihr nur einen guten Morgen wünschen.
(US-Manager: 58%; deutsche Manager: 84%)
Das ist richtig. Bei der Frage „How are you?“ will eigentlich niemand so genau wissen, wie es dem anderen geht. Vielmehr dienen derartige Floskeln dazu, die Alltagskommunikation freundlich zu gestalten und die Zusammenarbeit zu harmonisieren. Erwartet wird in diesem Beispiel meist lediglich die stereotype Antwort „Fine, how are you?“; detailliertere Ausführungen, etwa zum Gesundheitszustand, werden als zu persönlich aufgefasst. Deutsche empfinden dieses Verhalten oftmals als oberflächlich und bewerten es negativ. Höfliche Grußformeln erfüllen aber eine wichtige Funktion im amerikanischen Arbeitsleben, indem sie die Beziehungen untereinander fördern.
Rückmeldung zu Antwort 3:
Niemand gibt in den USA offen zu, dass es ihm nicht gut geht.
Deshalb ist die Kollegin über die Antwort irritiert.
(US-Manager: 12%; deutsche Manager: 12%)
Das ist nicht ganz falsch. Im gesundheitsbewussten Amerika ist es in der Tat ungewöhnlich, dass jemand über seinen Gesundheitszustand klagt. Dieser Umstand trifft aber nicht den Kern des Problems. Im vorliegenden Beispiel hat die deutsche Kollegin einfach nicht den Beziehungsaspekt der Frage »How are you?« verstanden. Wie bereits erläutert wurde, handelt es sich dabei lediglich um eine Grußformel, bei der man sich nicht detailliert zu seinem Befinden äußert. Möchte man dennoch etwas Persönliches mit einfließen lassen, dann nur positive Nachrichten. Anders verhält es sich, wenn zwischen den Personen eine engere Beziehung besteht.
Rückmeldung zu Antwort 4:
Die Kollegin hat wahrscheinlich am Wochenende nichts Aufregendes erlebt
und versucht deshalb, von diesem unangenehmen
Thema abzulenken
(US-Manager: 8%; deutsche Manager: 0%)
Diese Erklärung kann schon deshalb nicht zutreffen, weil mit der
Floskel „How was your weekend?“ keine eingehende Diskussion der Wochenendaktivitäten
des Gesprächspartners intendiert wurde.
Fall 34: Verabredung auf dem Seminar
Während eines Seminars an einer Business-School lernt Rainer Possinger,
der seit kurzem für einen großen deutschen Automobilkonzern
in den USA tätig ist, Gary Douglas kennen. Beide verstehen sich auf
Anhieb prächtig, zumal sie feststellen, dass sie im selben Stadtteil
von Detroit wohnen und in ihrer Freizeit ähnlichen Hobbys nachgehen.
Sie vereinbaren spontan, sich nach dem Ende des Seminars privat zu treffen.
Eine Woche nach dem Seminar ruft Herr Possinger bei Mr. Douglas an,
um sich zu verabreden. Dieser ist jedoch beruflich so stark eingespannt,
dass er in den nächsten Wochen keine Möglichkeit zu einem Treffen
sieht. Er vertröstet Rainer Possinger deshalb auf einen späteren
Termin. Nachdem Herr Possinger wochenlang nichts von seinem neuen Bekannten
gehört hat, greift er erneut zum Telefon. Wieder ist Mr. Douglas zu
beschäftigt, um sich zu verabreden. Rainer Possinger ist darüber
sehr enttäuscht und beschließt, Mr. Douglas zukünftig nicht
mehr anzurufen.
Wie beurteilen Sie das Verhalten von Mr. Douglas?
1. Mr. Douglas hat nie ernsthaft vorgehabt, sich mit Herrn Possinger
zu treffen.
2. Mr. Douglas steht beruflich so unter Druck, dass er ein Treffen
mit Herrn Possinger nicht einrichten kann.
3. Amerikaner sind anfangs immer begierig, neue Bekanntschaften zu
schließen, ändern aber schnell ihre Meinung und haben dann plötzlich
kein Interesse mehr.
4. Mr. Douglas hat die Verabredung mit Herrn Possinger ehrlich gemeint,
war aber in Seminarstimmung. Zurück im Berufsalltag sah alles schon
wieder anders aus.
Rückmeldung zu Antwort 1:
Mr. Douglas hat nie ernsthaft vorgehabt, sich mit Herrn Possinger
zu treffen.
(US-Manager: 35%; deutsche Manager: 15%)
Ja, vieles spricht dafür, dass diese Antwort richtig ist. Herr Possinger hat das Verhalten von Mr. Douglas fehlinterpretiert. Amerikaner sind ausgesprochen offene Menschen. Sie knüpfen gerne und schnell Kontakte, auch zu Personen, die sie voraussichtlich nie wieder sehen werden. Bei sozialen Kontakten werden häufig Floskeln verwendet, die Deutsche zuweilen missverstehen. So wird leicht einmal dahingesagt, jemanden einladen zu wollen oder gemeinsam etwas zu unternehmen, auch wenn dies nicht so ernsthaft beabsichtigt wird. Vielmehr dienen derartige Floskeln dazu, dem anderen Interesse an seiner Person zu signalisieren und Sympathie zu bekunden. Deshalb ist es wichtig, bei Gesprächen mit Amerikanern genau auf die Untertöne zu achten.
Rückmeldung zu Antwort 2:
Mr. Dow glas steht beruflich so unter Druck, dass er ein Treffen
mit Herrn Possinger nicht einrichten kann.
(US-Manager: 27%; deutsche Manager: 19%)
Diese Möglichkeit kann natürlich nicht ausgeschlossen werden. Im amerikanischen Geschäftsleben sind Phasen, in denen man unter einem extremen Termindruck steht, nicht selten (siehe Handlungs-/Ergebnisorientierung, Seite 185). Für den geschilderten Sachverhalt gibt es aber eine plausiblere Erklärung.
Rückmeldung zu Antwort 3:
Amerikaner sind anfangs immer begierig neue Bekanntschaften zu schließen,
ändern aber schnell ihre Meinung und haben dann plötzlich kein
Interesse mehr.
(US-Manager: 12%; deutsche Manager: 42%)
Das ist pauschal sicherlich nicht richtig. Die für die amerikanische
Gesellschaft kennzeichnende Schnelllebigkeit und Dynamik wirkt sich natürlich
auch auf den Verlauf von sozialen Beziehungen aus. Amerikaner knüpfen
leicht Kontakte, ohne damit notwendigerweise eine tiefergehende Kontaktabsicht
zu verbinden. Bei Deutschen entsteht deshalb oft der Eindruck, dass ihre
amerikanischen Bekannten, die anfangs noch so aufgeschlossen waren, später
kein Interesse mehr an ihnen haben.
Rückmeldung zu Antwort 4:
Mr. Dow glas hat die Verabredung mit Herrn Possinger ehrlich gemeint,
war aber in Seminarstimmung. Zurück im Berufsalltag sah alles schon
wieder anders aus.
(US-Manager: 27%; deutsche Manager: 23%)
Es ist möglich, dass die positive „Seminarstimmung« zu dem
geschilderten Verhalten beigetragen hat. Grundsätzlich gehören
Weiterbildungsseminare aber für amerikanische Fach- und Führungskräfte
zum normalen Berufsalltag. Sie verfolgen mit dem Besuch von Weiterbildungsveranstaltungen
klare Zielsetzungen, wie etwa die Verbesserung ihrer Karrierechancen, und
sind auf derartigen Seminaren nicht ausgelassener als sonst.
Fall 35: Einladung zum Barbecue
Kai Wassmann lebt mit seiner Familie in Hartfort, Connecticut, wo er
die amerikanische Niederlassung eines deutschen Versicherungsunternehmens
leitet. Mit ihren Nachbarn, den Millers, verbindet die Familie Wassmann
ein fast freundschaftliches Verhältnis. Heute haben die Millers sie
zum Barbecue eingeladen.
Beim Essen unterhält man sich über die verschiedensten Themen,
angefangen vom Münchner Oktoberfest bis hin zur Niederlagenserie des
lokalen Eishockey-Teams. Kommt man jedoch auf politische Dinge oder gesellschaftliche
Probleme zu sprechen, lenken die Millers sofort auf belanglosere Themen
über.
Warum möchte sich die amerikanische Familie nicht über diese Themen unterhalten?
1. Amerikaner unterhalten sich bei einem Barbecue nicht gerne über
problematische Themen. In der Freizeit möchte man sich entspannen
und über angenehme Dinge sprechen.
2. Amerikaner fühlen sich schnell persönlich angegriffen
und gehen deshalb kritischen Themen lieber von vornherein aus dem Weg.
3. Amerikaner empfinden diese Themen als nicht der Rede wert.
4. Amerikaner haben nicht die Allgemeinbildung, um sich über weltpolitische
Themen zu unterhalten. Sie versuchen dies durch Unterhaltungen über
Belanglosigkeiten zu kaschieren.
Rückmeldung zu Antwort 1:
Amerikaner unterhalten sich bei einem Barbecue nicht gerne über
problematische Themen. In der Freizeit möchte man sich entspannen
und über angenehme Dinge sprechen.
(US-Manager: 81 %; deutsche Manager: 42%)
Ja, das stimmt wirklich. Während Deutsche in ihrer Freizeit gerne politisieren und sich über „ernsthafte<‘ Themen unterhalten, haben Amerikaner ein anderes Verständnis von Freizeitgestaltung. Sie möchten sich zerstreuen und konfliktgeladene Themen möglichst vermeiden. Die Freizeitgestaltung steht unter dem Motto have fun. Die Tatsache, dass man sich in seiner Freizeit den Spaß am Leben nicht verderben lassen möchte, bedeutet aber keineswegs, dass man den Ernst von gesellschaftlichen Problemen wie Rassismus, Aids usw. verkennt. Viele Amerikaner sind in ihrer Freizeit ehrenamtlich sozial tätig. Bisweilen lassen sich soziales Engagement und Vergnügen sogar trefflich verbinden, wie etwa im Falle von Gala- und Benefizdiners, bei denen prominente Künstler auftreten.
Rückmeldung zu Antwort 2:
Amerikaner fühlen sich schnell persönlich angegriffen und
gehen
deshalb kritischen Themen lieber von vornherein aus dem Weg.
(US-Manager: 15%; deutsche Manager: 12%)
Nein, das kann man nicht behaupten. Amerikaner sind bei anderen Anlässen durchaus bereit, sich auf ein kritisches Gespräch einzulassen — allerdings nicht bei einem Gartenfest, zu dem man Gäste eingeladen hat und bei dem man sich amüsieren möchte.
Rückmeldung zu Antwort 3:
Amerikaner empfinden diese Themen als nicht der Rede wert.
(US-Manager: 0%; deutsche Manager.‘ 15%)
Diese Erklärung ist unzutreffend. Amerikaner gehen sicherlich mit mehr Gelassenheit und größerem Optimismus an Probleme heran als Deutsche. Es ist auch richtig, dass viele weltpolitische Themen, wie etwa der europäische Einigungsprozess, die Probleme bei der Wiedervereinigung Deutschlands oder die Umwälzungen in Osteuropa, für viele Amerikaner sehr weit weg sind. Das bedeutet aber nicht, dass sie generell unkritischer sind oder ernsthafte Themen als nicht der Rede wert erachten.
Rückmeldung zu Antwort 4:
Amerikaner haben nicht die Allgemeinbildung, um sich über
weltpolitische Themen zu unterhalten. Sie versuchen dies durch
Unterhaltungen über Belanglosigkeiten zu kaschieren.
(US-Manager.‘ 4%; deutsche Manager.‘ 31%)
Diese voreilige Schlussfolgerung ziehen Deutsche häufig aufgrund
derartiger Erlebnisse. Amerikaner als ungebildet oder weltpolitisch desinteressiert
zu bezeichnen, ist aber eine grobe Verallgemeinerung. Zwar sind Teile der
Bevölkerung tatsächlich recht desinformiert, was die politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Europa oder in anderen
Teilen der Welt betrifft. Die Personen, mit denen deutsche Geschäftsreisende
und Unternehmensentsandte in den USA zu tun haben, weisen aber meist eine
gute (Aus-)Bildung auf. Die Upper middle class der Manager, Arzte, Rechtsanwälte
usw. ist politisch wie kulturell sehr interessiert.
Fall 36: Aus den Augen, aus dem Sinn?
Torsten und Verena Kolb leben seit zwei Jahren in einem Vorort von Chicago,
wo Torsten Kolb in der Niederlassung eines deutschen Elektrokonzerns tätig
ist. Die Kolbs haben sich in dieser Zeit gut eingelebt und viele amerikanische
Bekannte gewonnen. Leider werden ihre besten Freunde, George und Norma
Harns, in Kürze umziehen, weil George eine neue Stelle an der Ostküste
angenommen hat.
Beim letzten gemeinsamen Abendessen versichert man einander, trotz
der Entfernung in Kontakt zu bleiben, und schmiedet Pläne für
einen Besuch am neuen Wohnort der Familie Harns. Da George und Norma noch
kein geeignetes Haus gefunden haben, versprechen sie den Kolbs, sobald
sie fündig geworden sind, umgehend ihre neue Anschrift zu senden.
Monate vergehen, ohne dass die Kolbs von ihren alten Freunden hören.
Schließlich, nach fast einem Jahr, meldet sich Norma Harns telefonisch
mit der Nachricht, dass sie und ihr Mann nächste Woche für einige
Tage nach Chicago kämen und sich gerne mit ihnen treffen würden.
Torsten und Verena Kolb sind darüber sehr enttäuscht. Nicht nur
haben sich George und Norma eine Ewigkeit nicht gemeldet; sie haben offensichtlich
nur deshalb wieder den Kontakt aufgenommen, weil sie zufällig in der
Gegend zu tun haben.
Wie beurteilen Sie das Verhalten des amerikanischen Ehepaars?
1. Das Erlebnis des Ehepaars Kolb verdeutlicht, dass Amerikaner ziemlich
oberflächliche Beziehungen zu ihren Mitmenschen unterhalten.
2. Die Freundschaft zwischen den beiden Ehepaaren war aus der Sicht
der Amerikaner nicht so eng, dass sie nach dem Umzug noch ein Interesse
an ihrer Fortsetzung hatten.
3. Amerikanern fällt es leicht Freunde zu erwerben, sie können
sich aber schnell wieder von ihnen lösen, wen beispielsweise ein Ortswechsel
ansteht.
4. Das Ehepaar Harns war durch den Umzug und die Eingewöhnung
am neuen Wohnort so beschäftigt, dass es einfach keine Zeit hatte,
alte Kontakte zu pflegen.
Rückmeldung zu Antwort 1:
Das Erlebnis des Ehepaars Kolb verdeutlicht, dass Amerikaner ziemlich
oberflächliche Beziehungen zu ihren Mitmenschen unterhalten.
(US-Manager: 0%; deutsche Manager: 14%)
Aufgrund derartiger Erlebnisse ziehen Deutsche häufig die vor-eilige Schlussfolgerung, dass Amerikaner bloß zu oberflächlichen Beziehungen fähig seien. Dahinter verbirgt sich meist die Enttäuschung, dass sich aus einer Bekanntschaft keine dauerhafte oder tiefergehende Freundschaft entwickelt hat. Amerikaner pflegen in der Regel lockere und weniger beständige Kontakte als die Deutschen, die dagegen lieber wenige, aber sehr vertraute Freunde besitzen. Es gibt natürlich auch bei Amerikanern enge Freundschaften, die über eine weite Distanz hinweg erhalten bleiben. Solche tiefergehenden Beziehungen entwickeln sich aber meist in einem sehr langwierigen Prozess.
Rückmeldung zu Antwort 2:
Die Freundschaft zwischen den beiden Ehepaaren war aus der
Sicht der Amerikaner nicht so eng, dass sie nach dem Umzug
noch ein Interesse an ihrer Fortsetzung hatten.
(US-Manager: 36%; deutsche Manager: 54%)
Das ist möglich. Freundschaften weisen in den USA — wenn man das amerikanische Verständnis des Wortes friend zugrunde legt — nicht unbedingt ein so hohes Maß an Intimität auf wie in Deutschland. Freundschaften beruhen überwiegend auf gemeinsamen Interessen, weniger auf einer tiefergehenden Wesensverwandtschaft oder auf persönlichen Erfahrungen, die man mit dem anderen teilt. Fallen die gemeinsamen Interessen weg oder zieht man an einen anderen Ort, bricht damit häufig auch der Kontakt ab.
Rückmeldung zu Antwort 3:
Amerikanern fällt es leicht Freunde zu erwerben, sie können
sich
aber schnell wieder von ihnen lösen, wenn beispielsweise ein
Ortswechsel ansteht.
(US-Manager: 42%; deutsche Manager: 28%)
Das ist richtig. Dadurch dass Bekanntschaften überwiegend auf gemeinsamen Interessen beruhen, entwickeln sich freundschaftliche Beziehungen zwischen Amerikanern meist deutlich schneller als zwischen Deutschen. Hinter der anfänglichen Kontaktbereitschaft verbirgt sich aber nicht unbedingt eine tiefergehende oder dauerhafte Interaktionsabsicht. Der Schritt von einem ungezwungenen Kontakt hin zu einer tieferen Vertrautheit ist in den USA nur schwer zu überwinden. Daher können sich Amerikaner auch verhältnismäßig leicht von Bekannten lösen, wenn beispielsweise ein Ortswechsel ansteht oder die gemeinsamen Interessen doch nicht so groß sind, wie ursprünglich angenommen wurde.
Rückmeldung zu Antwort 4:
Das Ehepaar Harns war durch den Umzug und die Eingewöhnung am
neuen Wohnort so beschäftigt, dass es einfach keine Zeit hatte, alte
Kontakte zu pflegen.
(US-Manager: 22%; deutsche Manager: 4%)
Das kann nicht ausgeschlossen werden. Wie an anderer Stelle erläutert
wird (siehe Individualismus, Seite 27), ist die Schonphase nach einem Arbeitsplatzwechsel
in den USA nur von kurzer Dauer. Von neu eingestellten Mitarbeitern wird
erwartet, dass sie sich zügig einarbeiten und ein großes Engagement
an den Tag legen. Auch im privaten Bereich kann ein Umzug mit großen
Veränderungen einhergehen, so dass das Ehepaar Harns seine geringe
Freizeit möglicherweise für die Eingewöhnung am neuen Wohnort
benötigte und einfach keine Zeit hatte, sich um alte Kontakte zu kümmern.
Fall 37: Britta Baummann
Britta Wortmann arbeitet seit einigen Monaten als Praktikantin bei einem deutschen Bekleidungsunternehmen in New York. Während des Urlaubs in Florida hat sie sich in George, einen politischen Flüchtling aus Schwarzafrika, verliebt. Zurück in New York, wird Britta gleich von ihren Kolleginnen ausgefragt. Voller Begeisterung erzählt sie von ihrem Traummann. Da sie nicht weiß, wie lange er sich noch in den USA aufhalten darf, ist Britta sehr besorgt. Sie ist froh, endlich mal mit jemandem über ihre Sorgen sprechen zu können, und beginnt die näheren Umstände zu erläutern. Leider merkt sie schnell, dass ihre Kolleginnen doch nicht so an ihren Problemen interessiert sind, da sie bereits beim nächsten Stichwort auf ein anderes Thema umzuschwenken. Britta ist von ihren Kolleginnen enttäuscht.
Was veranlasst die Kolleginnen Ihrer Meinung nach zu ihrem Verhalten?
1. Amerikaner reden nicht gerne über Probleme, sondern plaudern
lieber über unverfängliche Dinge.
2. Die Kolleginnen wollen Frau Wortmann nicht zu nahe treten, da sie
denken, dass das Thema für sie unangenehm ist.
3. Man unterhält sich am Arbeitsplatz nicht über derart private
Dinge.
4. Amerikaner sind weltpolitisch nicht besonders interessiert und können
die Probleme von politischen Flüchtlingen kaum nachvollziehen. Sie
wechseln in solchen Fällen lieber schnell das Thema.
Rückmeldung zu Antwort 1:
Amerikaner reden nicht gerne über Probleme, sondern plaudern
lieber über unverfängliche Dinge.
(US-Manager: 27%; deutsche Manager: 35%)
Das wäre eine mögliche Erklärung. Amerikanern ist die in Deutschland verbreitete Neigung, Dinge zu problematisieren und sich ausgiebig über Missstände zu beklagen, eher fremd. Beim Small talk in der Firma unterhält man sich lieber über unverfängliche Themen. Ernsthafte private Probleme werden kaum besprochen. Nach außen hin versuchen Amerikaner meist den Eindruck zu erwecken, dass es ihnen gut geht. Selbstverständlich gibt es auch hier Ausnahmen. Worüber man mit wem wie offen spricht, hängt in erster Linie davon ab, wie vertrauensvoll die Beziehung zwischen den Gesprächspartnern ist.
Rückmeldung zu Antwort 2:
Die Kolleginnen wollen Frau Wortmann nicht zu nahe treten, da
sie denken, dass das Thema für sie unangenehm ist.
(US-Manager: 19%; deutsche Manager: 19%)
Auch wenn dies nicht auszuschließen ist, lässt es sich aus dem beschriebenen Zusammenhang heraus nicht erkennen. Frau Wortmann hat das Thema schließlich selbst angesprochen.
Rückmeldung zu Antwort 3:
Man unterhält sich im Arbeitsleben nicht über derart private
Dinge.
(US-Manager: 50%; deutsche Manager: 27%)
Mit dieser Antwort haben Sie den entscheidenden Grund erfasst. Im amerikanischen Arbeitsleben gibt es genaue Konventionen, worüber man sich bei welchen Anlässen unterhält. Amerikaner sind keineswegs so informell, wie oftmals angenommen wird. Beruf und Privatsphäre werden streng getrennt, was nicht ausschließt, dass man sich auf einer Small-talk-Basis gerne über gemeinsame Hobbys, die Familie usw. unterhält. In Einzelfällen, wenn Kollegen ein vertrautes Verhältnis zueinander haben, wird selbstverständlich auch in den USA über private Dinge gesprochen. In dem angeführten Beispiel sind Frau Wortmanns Kolleginnen aber der Auffassung, dass sie diese persönlichen Dinge nichts angehen.
Rückmeldung zu Antwort 4:
Amerikaner sind weltpolitisch nicht besonders interessiert und können
die Probleme von politischen Flüchtlingen kaum nachvollziehen. Sie
wechseln in solchen Fällen lieber schnell das Thema.
(US-Manager: 4%; deutsche Manager: 19%)
Nein, das ist nicht richtig. Diese Antwort hängt offenbar mit dem
Vorurteil zusammen, dass Amerikaner sich weder für weit-politische
Themen interessieren noch genauere Kenntnisse über Ereignisse außerhalb
der USA besitzen. Wie aber bereits an anderer Stelle dieses Trainingsabschnitts
erläutert wurde, handelt es sich hierbei um eine grobe Verallgemeinerung.
Was die Probleme von politischen Flüchtlingen betrifft, sind Amerikaner
sicherlich in hohem Maße sensibilisiert, da die USA ein Einwanderungsland
ist und viele Amerikaner selbst Flüchtlingserfahrungen gemacht haben.
An dieser Stelle sei nur an die große Zahl von emigrierten Juden,
Exil-Kubanern oder politischen Flüchtlingen aus Vietnam und China
erinnert, die in den USA leben.
Kontaktorientierung
Dieser Trainingsabschnitt bezog sich auf das Kulturmerkmal Kontaktorientierung.
Die Fallbeispiele verdeutlichen, wie in den USA persönliche Vertrauensverhältnisse
aufgebaut werden, wie sich soziale Kontakte entwickeln und wie zwischenmenschliche
Beziehungsmuster interpretiert werden.
Die Erwartungen von Amerikanern und Deutschen über den Verlauf
und Ausgang von zwischenmenschlichen Begegnungen weichen meist erheblich
voneinander ab.54 Für das amerikanische Sozialverhalten ist die Offenheit
von peripheren Lebensbereichen bei gleichzeitiger Verschlossenheit von
zentralen Persönlichkeitsbereichen charakteristisch. Im Alltagsleben
folgen Amerikaner üblicherweise dem Gebot der „Distanzminimierung“:
Sie knüpfen schnell Kontakte, ohne damit eine tiefergehende oder dauerhafte
Beziehung anzustreben. Eine Unterhaltung zwischen Fremden kommt schnell
in Gang, sei es in der Subway, im Theater oder anderswo. Man geht freundlich
aufeinander zu, sucht den sozialen Kontakt und plaudert über dies
und jenes, ohne dabei weitergehende Erwartungen in seinen Gesprächspartner
zu setzen.
Der in die USA emigrierte Sozialpsychologe Kurt Lewin55 hat beobachtet:
„Compared with Germans, Americans seem to make quicker progress toward
friendly relations in the beginning, and with many more persons. Yet this
development often stops at a certain point.“ Bezüglich der zentralen
Persönlichkeitsbereiche sind Amerikaner mindestens ebenso verschlossen
wie Deutsche. Ihre Privatsphäre ist ihnen heilig. Tiefwurzelnde persönliche
Überzeugungen, Probleme oder Gefühle werden anderen Personen
nur selten anvertraut. Auch freundschaftliche Beziehungen enden meist an
diesem Punkt.56 Freundschaften entstehen mehr aus gemeinsamen Interessen
heraus und weniger aus dem Teilen von persönlichen Erfahrungen oder
aus der Offenbarung des eigenen Seelenzustandes. Probleme lösen Amerikaner
entweder allein oder, wenn es an einer vertrauensvollen Freundschaft fehlt,
mit einem Fachmann. Mit Freunden genießt man lieber die schönen
Seiten des Lebens und geht gemeinsamen Interessen nach.
Die Tatsache, dass Freundschaften sich überwiegend auf der Grundlage
von gemeinsamen Interessen und Aktivitäten entwickeln, führt
zu einer gewissen Spezialisierung in den sozialen Beziehungen.57 So unterscheiden
Amerikaner relativ strikt zwischen Bekannten, die man von der Arbeit her
kennt, und solchen, mit denen man die Freizeit verbringt. Im Extremfall
hat man seine Arbeitskollegen, die Tennis-Freunde, die Skat-Freunde usw.,
wobei sich die unterschiedlichen Freundeskreise kaum überlappen. Wirkliche
Probleme bespricht man, wenn überhaupt, nur mit den „besten Freunden“,
die man oftmals noch von der Schule oder von der Universität kennt.
Wenn Amerikaner von einem friend sprechen, meinen sie in den seltensten
Fällen einen „Freund“ im deutschen Wortsinn, d.h. eine Person, mit
der man eine enge und vertrauensvolle Beziehung unterhält. Meist bezieht
sich dieser Ausdruck auf einen —bisweilen flüchtigen — Bekannten,
ohne Bewertung der Intensität dieser Beziehung. Oftmals meiden Amerikaner
enge Beziehungen, weil sie fürchten, dadurch an Unabhängigkeit
einzubüßen. Wie an anderer Stelle aufgezeigt wird, orientiert
sich die Erziehung am Ideal der unabhängigen und selbständigen
Persönlichkeit. Natürlich gibt es auch bei Amerikanern tiefergehende
Freundschaften mit einem hohen Maß an gegenseitiger Vertrautheit,
doch wird ihnen bei weitem nicht so eine große Bedeutung beigemessen
wie in Deutschland, wo sich freundschaftliche Beziehungen sehr viel langsamer
entwickeln, meist intimer sind und stärker auf die verschiedenen Lebensbereiche
ausstrahlen.
Diese kulturspezifischen Eigenheiten in der Kontaktorientierung verdeutlichen,
warum Amerikaner verhältnismäßig leicht Freunde erwerben,
sich aber oftmals ebenso schnell wieder von ihnen lösen, wenn beispielsweise
ein Ortswechsel ansteht. Sie erklären auch, weshalb es Deutschen,
die in den USA leben, so schwer fällt, dauerhafte oder tiefergehende
Freundschaften zu etablieren. Diese Hürde ist nur schwer zu überwinden.58
Nicht zuletzt deshalb ist bei vielen Deutschen das Vorurteil verbreitet,
dass Amerikaner nur zu oberflächlichen Beziehungen fähig seien.
Meist verbirgt sich hinter dieser Feststellung die Erfahrung, dass die
anfänglich so hilfsbereiten und offenen Amerikaner gar nicht an einer
tiefergehenden Beziehung interessiert sind.
Zur Einschätzung, dass Amerikaner oberflächlich seien, trägt
auch der Umstand bei, dass sie im täglichen Umgang miteinander offener
und mitteilsamer sind als Deutsche. Floskeln wie How arc you doing?, Good
for you usw. zeigen nicht unbedingt ein persönliches Interesse an
dem Gesprächspartner, sondern sollen — in der Regel unbewusst — ausdrücken,
dass man ein umgänglicher Zeitgenosse ist. Deutsche, die bei Begegnungen
mit entfernt bekannten Personen meist eine größere Distanz an
den Tag legen, gewinnen aufgrund., derartiger Höflichkeitsfloskeln
mitunter den Eindruck, dass Freundlichkeit im amerikanischen Wertesystem
Vorrang vor Ehrlichkeit hat. Diese Vermutung liegt etwa dann nahe, wenn
eine Ausrede vorgeschoben wird, um eine unliebsame Einladung auszuschlagen.
Die Direktheit, mit der Deutsche Ablehnung oder Kritik formulieren, wird
von Amerikanern aber als unhöflich empfunden.59 Mit einer kleinen
Ausrede, etwa einem Sorry, 1 am busy, kann man auf indirekte und weniger
verletzende Weise deutlich machen, daß man nicht an einer Verabredung
interessiert ist. Meist wird dies vom Gesprächspartner auch so verstanden
und akzeptiert.
Von den höflichen und rücksichtsvollen Umgangsformen in den
USA sollte man sich nicht zu der Annahme verleiten lassen, dass der amerikanische
Kommunikationsstil besonders indirekt oder blumig sei. Dies ist gewiss
nicht der Fall. Nach den Ergebnissen des Kulturanthropologen Edward T.
Hall zur „Kontextabhängigkeit« der Kommunikation in verschiedenen
Ländern verständigen sich Amerikaner zwar weniger explizit als
die Deutschen, aber sehr viel direkter als beispielsweise die Franzosen,
die Lateinamerikaner oder die Asiaten.60 Wenn man zu lange beim Small talk
verweilt oder um ein Thema herumredet, kann es passieren, dass man von
den amerikanischen Gesprächspartnern für umständlich oder
unaufrichtig gehalten wird.
Gleichwohl ist es wichtig zu wissen, dass bei bestimmten Gesprächsgegenständen
in den USA Zurückhaltung geboten ist. Über kontroverse Themen
wie Religion oder Politik, die für einen Deutschen auch in oberflächlichen
Beziehungen akzeptabel erscheinen, sprechen Amerikaner nur mit Personen,
die sie besser kennen — die Meinungen zu diesen Themen könnten ja
auseinandergehen und zu einem Streitgespräch führen, eine Gesprächsform,
die Amerikaner lieber meiden. Gary Althen61 führt weitere Situationen
an, in denen Amerikaner zu indirekten oder ausweichenden Antworten neigen:
Americans are reluctant to speak openly when the topic is in an area they consider excessively personal (…); they want to say “no” to a request that has been made of them but do not want to offend or hurt the feelings of the person who made the request; they are not well enough acquainted with the other person to be confident that direct discussion will be accepted in the constructive way that is intended; and, paradoxically, they know the other person very well (it might be a spouse or dose friend) and they do not wish to risk giving offense and creating negative feelings by talking about some delicate problem.
Auch wenn man als Deutscher in den USA einen Ausländerbonus genießt
und amerikanische Partner über kleinere Regelverletzungen meist mit
Nonchalance hinwegsehen, ist man gut beraten, diese grundlegenden Gesprächsregeln
einzuhalten. Sollte dennoch eine Meinungsverschiedenheit offen zutage treten,
so lautet die Devise: „Ruhe bewahren!“ Eine laute Stimme, heftiges Gestikulieren
oder Unterbrechen des Gesprächspartners gelten als unangemessen und
aggressiv.
Fall 38: Einsam im Fitnesscenter
Ein „Gegenbeispiel“ zum Kulturmerkmal Kontaktorientierung
Dirk Kahnemann wurde vor einigen Wochen von seinem Unternehmen in die
USA entsandt. Da sich bei der Arbeit bislang noch keine günstige Gelegenheit
ergeben hat, um Kontakte zu knüpfen und Leute näher kennen zu
lernen, entschließt er sich, dem Fitnesscenter seiner Firma beizutreten.
Herr Kahnemann trifft dort auf einige Kollegen, die er vom Sehen kennt.
Sie begrüßen ihn mit einem kurzen Hello und widmen sich ansonsten
voll und ganz ihren sportlichen Aktivitäten. Viele von ihnen haben
einen Walkman auf, so dass kaum miteinander gesprochen wird.
Herr Kahnemann ist über dieses Verhalten sehr überrascht.
Zum einen ist er aus Deutschland eine ganz andere Atmosphäre in Fitnesscentern
gewöhnt, zum anderen hat er die Amerikaner für viel kontaktfreudiger
gehalten.
Wie beurteilen Sie das Verhalten
der amerikanischen Kollegen Im Fitnesscenter?
1. Man möchte mit Leuten, die man ohnehin den ganzen Tag in der
Firma sieht, nicht auch noch in der Freizeit zusammensein.
2. Die Amerikaner möchten lieber unter sich bleiben. Einem Deutschen
hätten sie vermutlich nicht viel zu erzählen.
3. Man möchte sich in erster Linie entspannen und richtig abschalten,
so dass keine Gespräche unter den Kollegen zustande kommen.
4. Amerikaner sind Fitnessfanatiker, die sich voll auf das Training
konzentrieren möchten.
Die Rückmeldungen zu Fall 38 finden Sie auf den nächsten Seiten.
Rückmeldung zu Antwort 1:
Man möchte mit Leuten, die man ohnehin den ganzen Tag in der
Firma sieht, nicht auch noch in der Freizeit zusammensein.
(US-Manager: 12%; deutsche Manager: 27%)
Das mag zu dem Verhalten der amerikanischen Kollegen beigetragen haben, auch wenn es nicht der Hauptgrund ist. Man besucht ein Fitnesscenter in erster Linie, um das Alltagsgeschehen zu vergessen und sich abzulenken. Hierfür wären Gespräche mit den Arbeitskollegen eher abträglich. Dieses Beispiel verdeutlicht auch, dass in den USA relativ strikt zwischen Privatleben und Arbeitsleben getrennt wird.
Rückmeldung zu Antwort 2:
Die Amerikaner möchten lieber unter sich bleiben. Einem Deutschen
hätten sie vermutlich nicht viel zu erzählen.
(US-Manager: 0%; deutsche Manager: 31 %)
Nein, dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Deutsche genießen in den USA durchaus ein hohes Ansehen. Zumindest dürfte die Aussicht, sich mit einem deutschen Kollegen, der neu in der Firma ist, zu unterhalten, keinen der amerikanischen Kollegen abgeschreckt haben.
Rückmeldung zu Antwort 3:
Man möchte sich in erster Linie entspannen und richtig abschalten,
so dass keine Gespräche unter den Kollegen zustande kommen.
(US-Manager: 50%; deutsche Manager: 42%)
Richtig, das ist die wahrscheinlichste Erklärung. Der Besuch eines
Fitnessklubs dient in den USA in erster Linie dazu, sich zu entspannen
und abzuschalten. Ein Fitnesscenter hat in diesem Sinne keine soziale Bedeutung.
Niemand legt Wert auf das Knüpfen von Kontakten oder auf eine Unterhaltung
mit Kollegen. Für gesellige Zusammenkünfte werden in den USA
andere Gelegenheiten genutzt. So gibt es außerhalb der Großstädte
bei-
Spielsweise Country clubs, die überwiegend der Freizeitgestaltung
dienen. Für Entsandte in den USA ist es allerdings nicht immer einfach,
sich einem derartigen Klub anzuschließen, da oftmals eine persönliche
Empfehlung eines Klubmitglieds für die Aufnahme erforderlich ist.
Rückmeldung zu Antwort 4:
Amerikaner sind Fitnessfanatiker, die sich voll auf das Training
konzentrieren möchten.
(US-Manager: 39%; deutsche Manager: 0%)
Das stimmt. Amerikaner legen tatsächlich sehr viel Wert auf körperliche
Fitness und ein attraktives Erscheinungsbild. Entsprechend weit verbreitet
sind Health clubs, Schönheitsfarmen und Spezialgeschäfte für
gesundheitsbewusste Ernährung. In allen größeren Städten
kann man in der Mittagspause Menschen beim Jogging beobachten. Bodybuilder
säumen die Strände von Florida und Kalifornien. Aufgrund der
großen Bedeutung, die Fitness für das Selbstwertgefühl
der Amerikaner hat, ist es durchaus denkbar, dass die Kollegen in dem Fallbeispiel
sich lieber auf ihre körperliche Ertüchtigung konzentriert haben
als auf ein Gespräch mit Herrn Kahnemann.